Digitale Ökosystem und Plattformen sind nach wie vor vielversprechend und attraktiv. Für die Teilnehmer und vor allem auch für den Betreiber der Plattform. In vielen Fällen liefern Digitale Ökosysteme viel klarere und lukrativere Business Cases als gehypte KI-Unternehmen. Viele Unternehmen und Organisationen überlegen logischerweise, wie sie ein Digitales Ökosystem etablieren und damit eine starke Position im Markt einnehmen können. Chancen gibt es viele, aber schwierig ist es trotzdem.
Obwohl es viel Literatur gibt, obwohl es zahlreiche Vorbilder erfolgreicher Digitaler Ökosysteme gibt und obwohl es auch schon zahlreiche Erkenntnisse aus gescheiterten Versuchen gibt, läuft oft schon der Start nicht rund.
Oft sind es ähnliche Entscheidungen und Herangehensweisen, die zu Problemen führen. Wir greifen in dieser kleinen Artikel-Serie Problembereiche heraus, die uns schon oft begegnet sind. Dazu gibt es Hintergründe und Ursachen und Tipps, wie ihr es gleich richtig machen könnt.
In Teil 1 der Serie war das behandelte Problem „Verloren in den unendlichen Weiten der Möglichkeiten“. Teil 2 der Serie behandelte das Problem „Fokus falsch – zu viel Technik oder zu viel Meta-Ebene“.
Problem 3: Grandios verschätzt – in Geld und Zeit
Für die Etablierung eines Digitalen Ökosystems muss einiges gemacht werden. Das kostet natürlich auch was. Wie viel es aber kostet und wie lange es dauert, das führt oft zu unliebsamen Überraschungen. Und das kann dann große Gefahr für das gesamte Ökosystem bedeuten, wenn irgendwann das Geld ausgeht und nicht genug eingenommen oder nachfinanziert werden kann.
Symptome und Konsequenzen
Es ist ja ein übliches Muster in Softwareprojekten, dass Schätzungen in Softwareprojekten zu optimistisch sind und die Realität dann Überschreitungen von Budget und Zeit bringt.
Bei der Etablierung von Digitalen Ökosystemen ist die Kluft zwischen Schätzung und Realität oft noch ungleich größer. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass nicht nur Software gebaut werden muss, sondern auch noch viele andere Dinge (z.B. Harmonierung von Assets, Betreuung der Partner, Gewinnung und Bindung von Ökosystem-Teilnehmern, …) geleistet werden müssen.
„Das wird ja nur eine Webseite“ hört man dann gerne. Von außen sieht es so aus. Von außen sieht auch ebay oder booking.com aus wie eine reine Webseite (mit zugehöriger App). Unter der Haube passiert aber wahnsinnig viel, um Teilnehmern im Ökosystem ein tolles Erlebnis zu bieten. Booking.com hat z.B. ca. 20.000 Mitarbeiter! Also ein riesiges Unternehmen, das „eine Webseite“ baut und betreibt.

Oftmals passieren Schätzungen ohne jegliche Grundlage und Ahnung. Oft ist auch der Wunsch nach einem verkraftbaren Preis dann der Vater der Schätzung. Es wird eine Zahl in den Raum gestellt, die irgendwer für passend hält. Wenn eine solche Zahl einmal genannt ist, wird sie erfahrungsgemäß ganz oft zitiert und verselbständigt sich dann im Projekt und wird alsbald als bare Münze genommen und wie eine belastbare Schätzung behandelt.
Das hört sich jetzt leider krass und eher unprofessionell an. Es kommt aber dauernd vor. Weil wir dieses Verhaltensmuster schon kennen, nennen wir nie eine Schätzung, ohne diese (schriftlich!) in geeignete Annahmen und Rahmenbedingungen einzubetten, um eine Einschätzung zur Konfidenz zu vermitteln. Es ist aber unglaublich, wie schnell selbst dann alle diese Einschränkungen in der Erzählung verschwinden und auch dann wieder die pure Zahl kolportiert wird und sich wieder nach einer seriösen und belastbaren Schätzung anhört. Alle streben nach belastbaren Zahlen, weil man damit natürlich besser arbeiten kann. Es wird aber nur selten daran gearbeitet, die Grundlage für belastbarere Zahlen zu legen.
Ein weiterer Grund, wie sich besonders optimistische Schätzungen ergeben, ist der geplante Aufbau auf einer bestimmten Technologie-Plattform oder einer Basis-Software, die man schon mal ausgewählt hat. Weil diese Software „schon ganz viel kann“, wird die Software für das Digitale Ökosystem viel günstiger. In der Realität klappt das ganz oft nicht. Einfach weil die Basis-Software viel zu weit weg ist und nicht für das Ökosystem gebaut wurde. In einem Digitalen Ökosystem geht es darum, eine Sache besonders gut zu machen, insbesondere in der Vermittlung zwischen Ökosystem-Teilnehmern. Das kann man nicht einfach einkaufen, weil das so gut wie immer noch niemand so gebaut hat, wie man es braucht (siehe Artikel Software für die Digitale Transformation kann man nicht kaufen, nur selbst bauen).
Druck entsteht oft auch durch haltlose und wenig sinnvolle Vorgaben aus dem Management. Dort wird gefordert, dass das Digitale Ökosystem bitte einen positiven Return-on-Invest nach 18 Monaten einspielen soll. Macht man schließlich immer so im Unternehmen (auch wenn die Forderung auch bei vielen anderen Produkten nicht erfüllbar ist). Diese Erwartung und Vorgabe baut Druck auf und nicht selten gibt jemand der Vorgabe nach und erstellt eine Schätzung, die es als machbar erscheinen lässt, nach 18 Monaten einen positiven RoI zu erreichen.

In der Praxis kommt der Break-Even meist viel später als gedacht. Einerseits weil es fast immer mehr kostet und zweitens weil das Digitale Ökosystem vor allem anfänglich langsamer wächst, als man sich das erhofft hat.
Um diese Probleme frühzeitig zu erkennen und zu verhindern, haben wir im Folgenden einige Tipps zusammengestellt.
Tipps, um nicht von der Spur abzukommen
Passende Ökosysteme zum Vergleichen suchen
Oft hilft es, sich einfach einige Digitale Ökosysteme oder einfach nur Software-Systeme zu nehmen, die man von der Art und Komplexität für vergleichbar hält. Dann kann man sich Informationen besorgen, wie viele Mitarbeiter diese Unternehmen haben, wie viel Geld in ihnen investiert wurde und wie lange sie schon am Aufbau sind.
Daraus kann man auch sehr interessante Gruppenschätzungen machen. Dazu haben wir schon in Gruppen von Managern Vergleichseinordnungen des eigenen Vorhabens in Relation zu anderen bekannten Firmen machen lassen. Ohne die Zahlen zu Mitarbeitern / Investitionen / Zeitdauer vorab zu nennen.

Es ist für viele leichter, einen Größenvergleich durchzuführen als eine Kostenschätzung zu machen. Oft ist z.B. Managern direkt klar, dass ihre Lösung eine bestimmte Komplexität hat, wenn sie einen Vergleich mit anderen Firmen anstellen müssen.
Der Überraschungseffekt ist dann aber oft groß, wenn man sich die Hintergrundzahlen zu Mitarbeiterzahlen und Investitionen vor Augen führt. Natürlich ist es nur ein abstrakter Vergleich. Und man kann auch nicht davon ausgehen, dass jedes Unternehmen maximal effizient arbeitet. Wir dürfen aber schon davon ausgehen, dass diese Unternehmen recht ordentlich arbeiten: Schließlich haben sie es schon geschafft, ein Ökosystem zu etablieren und das würde bei totaler Ineffizienz und Dämlichkeit wohl kaum funktioniert haben. Wir können also auf jeden Fall etwas lernen.
Dinge einplanen, die nicht durch Software gelöst werden können
Ein Digitales Ökosystem braucht viel mehr als nur die Software. Es braucht auch den ganzen Aufwand in eine Harmonisierung der Angebote. Für die Betreuung der Partner und Teilnehmer im Ökosystem. Und oft für viele weitere spezielle Dinge, die den Beitritt zum Ökosystem attraktiv machen, aber viel Aufwand verursachen. Es geht schließlich darum, etwas richtig gut zu machen und den Teilnehmer damit zu überzeugen.
Diese Dinge sind oft nicht (ausschließlich) durch Software zu erbringen. Dieser Aufwand braucht Leute, die aufgebaut und bezahlt werden müssen.
Geld für machbare Zwischenziele besorgen
Es ist eigentlich nie möglich, im Vorhinein das gesamte Geld für den Aufbau eines Digitalen Ökosystems zu besorgen. Weder als Venture Capital finanziertes Startup noch als Ausgründung aus einem Großunternehmen. Es wird immer so sein, dass man nur das Geld für einen bestimmten Abschnitt bekommt und dann wird geschaut, was erreicht wurde und wie es weiter gehen kann. Deshalb ist es sehr wichtig, klare Zwischenziele zu setzen, die ambitioniert aber auch erreichbar sind. Wenn man zwar viel verspricht aber nicht dann nicht liefert, dann wird es wohl kein weiteres Geld geben.

Effizient sein auch bei gut gefüllter Geldbörse
Sobald erfolgreich Geld für ein Zwischenziel zur Verfügung steht, fühlt sich das erst mal nach viel Geld an. Das ist aber extrem trügerisch. Wenn jetzt früh Geld großspurig ausgegeben wird für Dinge, die nicht substantiell beitragen, dann gefährdet dies sofort die Erreichung der nächsten Zwischenziele. Oft sieht man, dass nach erfolgreicher Finanzierungsrunde nicht nach diesem Prinzip gehandelt wird und stattdessen der Apparat und die Gehälter aufbläht werden. Das rächt sich nahezu immer.
Intern Klartext reden
Es nützt nichts, sich innerhalb des Unternehmens oder des Projektteams etwas vorzumachen hinsichtlich Zeit und Kosten des Ökosystem-Vorhabens. Es gibt natürlich viel Unsicherheit, mit der man zurechtkommen muss. Oft ist es aber so, dass es Beteiligte gibt, die ziemlich sicher wissen, dass gewisse Annahmen völlig unrealistisch sind und es viel länger dauert oder mehr kostet. Dies dann aber nicht zu sagen, nicht sagen zu dürfen oder nicht hören zu wollen ist absolutes Gift. Nach außen muss man im Aufbau manchmal eine etwas optimistischere Version der Lage und Aussichten vortragen, aber nach innen sollte das nicht passieren.
Akzeptieren, dass es ein signifikantes Risiko gibt zu scheitern
Ein Digitales Ökosystem zu etablieren, ist per se ein Vorhaben mit großen Gewinnmöglichkeiten bei gleichzeitig hohem Risiko des Scheiterns. Natürlich kann und sollte alles getan werden, um das Risiko des Scheiterns zu minimieren, vor allem sollten keine vermeidbaren Fehler gemacht werden. Aber egal wie gut man es macht, das Risiko zu scheitern bleibt vergleichsweise hoch. Es gibt extrem viele Dinge, die man nicht unter Kontrolle hat und wo auch etwas Glück notwendig ist. Man muss es sich also leisten können und wollen, dieses Risiko einzugehen. Gut sieht man das an Venture-Capital finanzierten Startups, die Digitale Ökosystem hochziehen: Es ist schon in der Denkweise und dem Wirkprinzip von Venture-Capital Fonds angelegt, genau in solche Unternehmen zu investieren, die ein hohes Gewinnpotential haben, aber auch ein hohes Risiko zu Scheitern.

Trotzdem können sich natürlich auch etablierte und erfolgreiche Konzerne oder Mittelständler trauen, nach großen Potentialen zu greifen. Hier hilft wieder das Vorgehen, immer nur bis zum Erreichen von bestimmten Zwischenzielen in Vorleistung zu gehen und dann einzuschätzen, ob die Erfolgswahrscheinlichkeit noch hoch genug ist.
Krasses Beispiel, das (leider) nicht zur Orientierung taugt
Ein in jüngster Zeit häufig wegen der extrem hohen Profitabilität genanntes Ökosystem-Unternehmen ist OnlyFans (Broker von Bildern und Videos im „Bereich der Erwachsenenunterhaltung“). Die berichteten Zahlen sagen aus, dass das Unternehmen im Jahr 2023 nur ~50 festangestellte Mitarbeiter hatte und mit diesen aber etwa 1,3 Milliarden Dollar eigenen Umsatz gemacht. Der gesamte Außenumsatz beläuft sich sogar auf 6,6 Milliarden Dollar, wodurch 5,3 Milliarden Dollar bei den „Content Creators“ ankam.
Von den 1,3 Milliarden Dollar blieben ca. 650 Millionen Dollar als Gewinn übrig. Zusätzlich zu den nur ~50 Mitarbeitern werden noch mehrere Hundert externe Personen engagiert, um Moderation und ähnliche Tätigkeiten durchzuführen.
Diese Zahlen führen zu exorbitant hohen Zahlen von Umsatz und Gewinn pro Mitarbeiter. In gängigen Vergleichsstatistiken schlägt OnlyFans selbst absolute Erfolgsfirmen wie Nvidia um Längen, ca. um Faktor 10 im Umsatz pro Mitarbeiter.

Das zeigt, wie erfolgreich Digitale Ökosysteme im Extremfall sein können. Es dient aber leider überhaupt nicht als Vorbild, um sich bezüglich Anzahl Mitarbeiter, Zeit bis zum Break Even oder Umsatz zu orientieren. Es ist eher so, dass man skeptisch werden sollte, wenn man auf seine Finanzprojektion schaut und sehr hohe Zahlen bei Umsatz pro Mitarbeiter auftauchen. In den seltensten Fällen ist es realistisch, sich mit seinem Geschäftsmodell in Spitzenpositionen zwischen extrem erfolgreichen Firmen direkt einzureihen. Trotzdem darf und soll man ambitioniert sein und sich große Ziele vornehmen.
Matthias

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